Gerne beantworten wir nachfolgend Ihre Fragen. Bitte beachten Sie dabei aber, dass die Prognosen sich in einem breiten Korridor bewegen: Wie die Ergebnisse letztlich tatsächlich ausfallen, hängt vor allem davon ab, wann wieder Urlaubsreisen ins Ausland im gewohnten Umfang möglich sind.

Wir beziehen uns in wichtigen Punkten auf die drei vom Kompetenzzentrum des Bundes am 9. April vorgestellten Szenarien für die Erholung des touristischen Geschäftes , einem optimistischen, einem realistischen und einem pessimistischen Modell.

Selbst das optimistische Szenario prognostiziert aber eine vollständige Erholung der deutschen Tourismuswirtschaft erst wieder bis zum Sommer 2022. Zusammenfassend ist festzustellen, dass selbst in diesem optimistischen Szenario die wirtschaftlichen Folgen für den deutschen Reisevertrieb verheerend sind.

Zur Methodik: Unsere Angaben berücksichtigen nur die stationäre Reisevermittlung (Reisebüros und vergleichbare Unternehmen), nicht jedoch Reiseveranstalter, die ihre Reisen ja zum Teil auch selbst vertreiben. Zudem haben wir unsere Aussagen weiter eingegrenzt: Deutschland verfügt über etwa 11.000 stationäre Reisevertriebsstellen, die zu mehr als 70% private Urlaubsreisen vermitteln. Aus dieser Grundgesamtheit haben wir jene 20% Reisemittler herausgerechnet, die als Kettenbüros im Besitz von großen Veranstaltern oder Leistungsträgern sind: Bei Reisebüros, die z.B. der TUI oder der Rewe gehören, ist es schwer, die finanziellen Herausforderungen trennscharf abzugrenzen, da diese Veranstalter traditionell in Krisen ihren eigenen Vertrieb quersubventionieren oder zumindest ausreichend Finanzmittel bereitstellen – so sind keine belastbaren Aussagen zur tatsächlichen Liquidität dieser Reisemittler möglich. Wir beziehen uns daher nur auf die gut 80% inhabergeführten deutschen Reisebüros, d.h. knapp 9.000 Unternehmen.

Zu Ihren Fragen:

Bei wie vielen Unternehmen (in %) droht eine Insolvenz?

Nach unserer Einschätzung: 40% / 70% / 95%
Selbst im Best Case Szenario geht das Kompetenzzentrum Tourismus nur davon aus, dass in 2020 maximal 20% der Erlöse des Vorjahres erzielt werden können – dies selbst bei einer Belebung schon ab Juli. Bei durchschnittlichen Umsätzen von 2,44 Mio. Euro p.a. pro Vertriebsstelle fehlen also dem typischen Büro für 2020 dann fast 200.000 Euro Provisions-Erlöse für das Kalenderjahr 2020. Bei den branchenüblichen Nettoumsatzrenditen von meist 1 bis 2% wären damit auch im optimistischen Szenario die Gewinne von vier bis acht Jahren Geschäftstätigkeit aufgezehrt. Doch da Tausende Reisebüros bereits durch die Thomas-Cook-Insolvenz im September 2019 Provisions-Verluste in ähnlichen Größenordnungen zu verzeichnen hatten, sind bei vielen Reisebüros schlichtweg keine Rücklagen mehr vorhanden, um nun zusätzlich auch noch die Corona-Folgen wirtschaftlich abzufedern.
Im pessimistischen Szenario könnten Reisebüros in den nächsten 24 Monaten zusammen nur 35% des Umsatzes der 12 Monate des Jahres 2019 erreicht. Den Umsatzrückgang um somit im Schnitt mehr als 80% über zwei Jahre würde kaum ein Reisebüro überleben können.

Wie lange können Unternehmen noch überleben?

Das hängt entscheidend von fünf Faktoren ab:

  • Verabschieden BJV und BMWi die sog. „Gutscheinlösung“, mit der Verbraucher verpflichtet werden, bis Ende 2021 Gutscheine statt Barauszahlung für abgesagte Reisen zu akzeptieren?
    • Kommt diese Regelung nicht, müssen die Reisebüros alle erhaltenen Provisionen – d.h. sämtliche Einnahmen! – an die Veranstalter zurückzahlen. Anders als in vielen anderen Branchen fallen in Reisebüros eben nicht nur zukünftige Einnahmen weg, sondern auch für viele Monate rückwirkend!
    • Wird die Gutscheinlösung hingegen umgesetzt, können die Reiseveranstalter auch die Provisionen in den Reisebüros belassen und sichern deren Überleben für einige Monate – aber nicht länger, da sämtliche Neuinnahmen ja entfallen. Hier gilt: Auch Einzelreiseleistungen müssen in die Gutscheinlösung integriert werden: Pauschalreisen und Flugtickets decken nur einen Teil des touristischen Markts ab, der durch die Rückzahlungsforderungen massiv bedroht ist. Der Individualtourismus – Ferienwohnungen, Busreisen, Campingwirtschaft und andere touristischen Anbieter – stehen vor einer vergleichbaren Problematik. Diese Ungleichbehandlung ist aus unserer Sicht unverständlich. Zumal für Veranstalter von Kultur-, Sport- und Freizeitveranstaltungen bereits eine großzügige Gutschein-Lösung gefunden wurde.
  • Schafft die Politik innerhalb der nächsten vier Wochen einen Fonds, in den die Tourismusunternehmen die Rückzahlungen an ihre Kunden auslagern und gleichzeitig die Forderungen gegenüber den Leistungsträgern abtreten können?
    Die Leistungsträger oder Reisevermittler könnten hier ebenfalls ihre Rückzahlungsverpflichtungen auslagern. Die Bundesregierung übernimmt als Schuldner, den Unternehmen wird ein angemessen langes Zahlungsziel und Zahlungskonditionen eingeräumt, die ausgelagerte Summe zurückzuzahlen.
    Das wird nach unserer Einschätzung für etwa die Hälfte alle Unternehmen des stationären Reisevertriebs den wesentlichen Ausschlag geben, ob das Reisebüro überleben kann oder nicht.
  • Erhalten die Reisebüros staatliche Hilfe für den Mehraufwand, bereits gebuchte Reisen im Veranstalterauftrag rückabwickeln zu müssen?
    Hier fällt für den stationären Reisevertrieb dreifache Arbeit an (ursprüngliche Buchung, corona-bedingte Stornierung, Neubuchung für einen späteren Zeitpunkt), der von den Veranstaltern aber nur einmal vergütet wird.
  • Fließen die Hilfen (Corona-Soforthilfen, Kurzarbeitergeld, Bafa-Förderung etc.) zeitnah?
  • Wann werden die pauschalen weltweiten Reiseverbote berechenbar gelockert, so dass durch Neubuchungen neue Erlöse erzielt werden können?

Natürlich lässt sich die letzte Frage nicht beantworten. Umso wichtiger für das Überleben des stationären Reisevertriebs sind daher die anderen vier Punkte.

Für diese ist aber aktuell aus Reisebürosicht festzuhalten: Der heutige Sachstand ist absolut unzureichend. Für viele Büros ist das Überleben daher nur noch eine Frage von Tagen, nicht von Wochen.

Für Tausende Beschäftigte ist die Frage sogar bereits beantwortet: Alleine die unserm Mit-telstandsverband aktiv gemeldeten Arbeitsplatzverluste durch Insolvenzen überschreiten die Marke von 1.500 Beschäftigten bereits deutlich. Die tatsächliche Zahl dürfte wesentlich höher liegen.

Bei wie vielen Unternehmen steht die Geschäftstätigkeit komplett still?

Das ist letztlich eine Definitionsfrage:

  • Auf der Vertriebsseite (Beratung und Verkauf) steht die Geschäftstätigkeit bei mehr als 95% aller Reisemittler komplett still:
    • Alle Reisebüros wurden zur Schließung gezwungen (Seuchenschutz).
    • Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes – also faktisch ein absolutes Reiseverbot – besteht mindestens bis zum 30. April.
    • Äußerungen führender Politikerinnen und Politiker zur Gefahr von Insolvenzen in der Touristik (im Zusammenhang mit der Gutscheinlösung) oder zur Wahrscheinlichkeit, den Sommerurlaub (nicht) durchführen zu können, haben nun auch den letzten Rest der Nachfrage völlig zum Erliegen kommen lassen.
  • Im operativen Bereich (Buchungen stornieren und umbuchen) herrscht dagegen in vielen Reisebüros Hochbetrieb – allerdings ohne jede Vergütung für die geleistete Arbeit.

Wie viele Unternehmen müssen Personal abbauen?

Nach unserer Kenntnis haben bereits jetzt mehr als 80% der Reisebüros Kurzarbeit angemeldet und/oder direkt Personal abgebaut, z.B. durch Kündigungen, Nichtverlängern befristeter Verträge, Nichtübernehmen von Auszubildenden.

Die restlichen 20% haben dies nur deswegen nicht getan, weil es Kleinunternehmen sind, in denen z.B. nur das Inhaber-Ehepaar arbeitet – da gibt es schlichtweg kein Einsparpotential mehr im Personal.

Wie hoch werden die Umsatzeinbußen im gesamten stationären Reisevertrieb aufgrund der Corona-Pandemie geschätzt?

Das Kompetenzzentrum Tourismus geht davon aus, dass selbst im optimistischen Szenario ein Umsatzrückgang von 80% für das laufende Jahr für den Gesamtmarkt zu verzeichnen ist. Im realistischen Szenario liegen die Umsatzrückgänge zu 2019 bei 95%, im pessimistischen Szenario sogar bei 98%.
Uns liegen keine Erkenntnisse oder Daten vor, dass dieser Wert im Reisebürovertrieb deutlich darüber oder darunter läge.

Inanspruchnahme von Liquiditätsprogrammen?

Nach unserer Kenntnis haben mehr als 90% der Unternehmen im stationären Reisevertrieb Liquiditätsprogramme beantragt, wie z.B.

  • Corona-Soforthilfe des Bundes und der Länder
  • KfW-Kredite
  • Kurzarbeitergeld
  • Stundung der Sozialversicherung

Tatsächlich in Anspruch genommen haben diese Leistungen dagegen bisher deutlich weniger Reisebüros, denn die Realität sieht anders aus:

  • Corona-Soforthilfen sind bei >80% der Antragsteller noch nicht ausgezahlt, meist noch nicht einmal beschieden
  • KfW-Kredite stehen den allermeisten Reisebüros faktisch nicht offen, denn der Großteil der Unternehmen beschäftigt weniger als zehn Mitarbeiter: Bei dieser Unternehmensgröße verweigern sich aber fast alle Hausbanken der Absicherung des zehnprozentigen Restrisikos. Der Grund liegt meist darin, dass viele Büros unverschuldet schon 2019 mit einem negativen Ergebnis abschließen mussten, denn aufgrund der Thomas-Cook-Insolvenz waren Provisionserlöse meist im fünfstelligen Bereich abzuschreiben. Dies belastet das Ergebnis 2019.
  • Kurzarbeitergeld: Mehr als 80% der berechtigten Unternehmen haben dies beantragt. Uns ist jedoch bisher kein einziges Reisebüro bekannt, dass bereits eine entsprechende Zahlung erhalten hätte.
  • Stundung der Sozialversicherung: Zahlreiche Reisebüros haben diese beantragt, kaum jemand hat sie erhalten. Selbst dort, wo sie gewährt wurde, verlangen Kassen zum Teil, dass eventuell gewährte Corona-Soforthilfen umgehend zur Zahlung der gestundeten Sozialversicherungsbeträge eingesetzt werden . Das ist faktisch keine Liquiditätshilfe.